Artworks by Alessandro Chiodo
© VG Bild-Kunst, Bonn, 2018







































































DIE UNWISSENHEIT DER BILDER
Wie die Fotografie lebendige Kunst erschafft
ein Essay von Larissa Ferro
Wenn wir über Unwissenheit sprechen, meinen wir meist die Abwesenheit eines tieferen Wissen und einer Kenntnis. Vielleicht assoziieren wir auch eine vermeintliche Ungekünsteltheit, Natürlichkeit und Ungezwungenheit. Die Schwarz-Weiß-Fotografien von Alessandro Chiodo jedoch sind aufgeladen von künstlerischem Ausdruck und Energie. Thematisch zeigen sie inszenierte Stillleben und Porträts von gewaltiger Lebendigkeit. Die Kenntnis und das künstlerisch-produktive Wissen des Künstlers mithilfe der Fotografie ein Werk zu schaffen, welches durch und durch als eigenständiges Kunstwerk zu betrachten ist und gleichzeitig vermag, die intensive Stimmung ohne jegliche Buntheit für den Betrachter zu traduieren.
Betrachten wir die folgende Abbildung, fühlen wir uns stark an ein sehr besonderes Zeitalter der Kunst erinnert. In der europäischen Kunsttradition beschreibt das Stillleben die Darstellung regloser Gegenstände. Die beabsichtigte Inszenierung verschiedenster Alltagsgegenstände und deren Gruppierung erfolgte nach bestimmten inhaltlichen und symbolischen sowie ästhetischen Aspekten. Die Vanitas-Darstellung ist ein besonderer Bildtypus des Stilllebens, in welchem die Vergänglichkeit betont wird. Ein besonderes Symbol der Vergänglichkeit ist der in den Vanitasstillleben stets wieder zu findende Totenkopf. Der Totenschädel ist ein sicheres Indiz für die Darstellung des Gedenkens an das Lebensende. Die künstlerische Fotografie von Alessandro Chiodo (Abb. 1) ist jedoch kein Stillleben, das sich allein als eine Art des Mahnmals verstehen lässt. Dezentralisiert nach links befindet sich ein Schädel. Er ruht auf einer ebenen Fläche. Stirn-, Nasen-, Jochbein und Oberkieferknochen wenden sich im Dreiviertelprofil zum rechten Bildrand. Die Augenhöhlen und die Nasenhöhle sind verschattet, sodass sie als schwarze Löcher erscheinen. Der Unterkieferknochen fehlt und so erweckt der Schädel den Eindruck, dass er sich in den flachen Untergrund festbeißt. Der Frontalknochen ist schwach beleuchtet und die unbunten Grauwertstufen der Fotografie erzeugen den Eindruck einer sachten und ruhigen, vielleicht einer gar andächtigen Atmosphäre. Links im Hintergrund befindet sich ein weiterer Gegenstand. Da er sich außerhalb des Fokus befindet, erscheint er unklar und verschwommen. Es ist ein gebrochener Laib Brot. Das Brot dient als Analogie des Lebens, der Nahrung und des Leibeswohls.
Alessandro Chiodo schafft hier eine tiefgehende und nachhaltig einprägsame Bildaussage. Eine Bildaussage, die in kraftvollem Spannungsverhältnis von Leben, präziser Lebendigkeit und Vergänglichkeit steht. Eine Thematik, die so präsent ist wie beinahe kaum ein anderes Thema in der Kunst und von Alessandro Chiodo auf diesem Foto mehr als nur eine Unterstreichung erhält. Zunächst die klare Betonung des Schädels im Vordergrund und des defokussierten Laibs Brot im Hintergrund. Beinahe entrinnt das Brot dem Auge und verliert sich im Hintergrund. Der nächste Aspekt der künstlerischen Umsetzung findet sich im Farbverlauf vom Hintergrund zum Vordergrund. Während die Unterlage, auf denen Schädel und Brot ruhen, durch einen mittleren Grauwert definiert ist, grenzt sich der Hintergrund im oberen Bildbereich in tiefem und satten Schwarz ab. Die klare Form, die Umriss- bzw. Gegenstandslinien und Struktur des Knochens werden betont. Ebenso auch die Augen- und Nasenhöhlen. Sie sind schwarz wie der obere Bildhintergrund. Eine Tiefe, die als Leere oder Abwesenheit gedeutet werden kann. Die Abwesenheit der Sinne, die dafür verantwortlich sind, die Speise im Hintergrund wahrzunehmen und zu erfassen: So sind die schwarzen Augenhöhlen blind und die schwarze Nasenhöhle zeugt von Anosmie. Das unscharf dargestellte Brot im Hintergrund wird fast poetisch gegen das Hauptmotiv abgesetzt. Die schwarz-weißen Abstufungen wirken hier keinesfalls ‚nur grau’ – im Gegenteil: Die Farblosigkeit ist dafür verantwortlich, dass im Bild eine identitätstiftende Stimmung entsteht, die eine mentale Farbigkeit beim intensiven Betrachten hervorruft.
Nähert man sich einer Interpretation dieses sehr symbolischen Elements und seiner Darstellungsweise, so liegt natürlich die Ähnlichkeit zu den großen flämischen Meistern der Stillleben nahe. Es sei jedoch betont, dass es bei Alessandro Chiodo wohl kaum um eine Nachahmung oder Gleichgestaltung selbiger geht. Der Betrachter weiß zwar um den Bildgegenstand dieser Fotografie, dennoch erleben wir hier eine künstlerische Neuinszenierung und blicken auf ein Fotowerk, das sich vielfältig, mehrschichtig und vor allem schöpferisch geistreich zeigt.
Die Schwarz-Weiß-Fotografien von Alessandro Chiodo unterliegen zweifelsohne dem FineArt-Gedanken. FineArt als fotografische Passion und als eine eigene Kunstform. Hier umgesetzt durch den feinfühligen Umgang mit der Materie und der Intention, herausragende Qualität zu schaffen. Es sind Kunstfotografien, die vom Fotografierenden als Kunstwerke angefertigt werden und eine kreative Vision sowie einen deutlichen kreativen Prozess erkennen lassen.
Zudem lassen Chiodos Fotowerke eine besondere, objektive Realität erkennen, die durch symbolhaltigen Kreativtechniken den schöpferischen Prozess des Fotografierens als Kunstwerk ebenso würdigt, wie das Ergebnis selbst als künstlerische Vision und Ausdruck verstanden wird. Bemerkenswert dabei ist seine imposante Verschmelzung bekannter Symbole in einer unkonventionell dargestellten Art, die den Betrachter dazu auffordert, sich mit dem Gesehenen und seinem Wissen über Bilder auseinanderzusetzen. Eine Frage, die dieser Aufforderung folgt, kann also lauten: Wieviel Wissen über Bilder beherbergt der Rezipient und welcher Anteil davon ist eigentlich der Unwissenheit seiner selbst geschuldet? Die intensive Stimmung, die sowohl durch Bildmotiv, Komposition und farbige Einschränkung entsteht, lenkt den Blick des Betrachters auf sehr achtsame Art. Die Möglichkeit, Wissen und Nicht-Wissen zumindest zu hinterfragen.
Wenn von einer ‚Unwissenheit der Bilder‘ in Chiodos Fotografiewerken die Rede ist, sehen wir sie als Aufforderung an den Betrachter, sich durch den visuellen Reiz des Werkes mit seinem Wissen neu auseinander zu setzen und zu fragen, was wir wirklich sehen und was wir sehen wollen. Denn die (vermeintliche) Unwissenheit der Bilder impliziert einen inhaltsreichen und aussagekräftigen Schatz an Impulsen, für ein kreatives Betrachten und offenbart dank der Farbabwesenheit die imposante Kunst – tiefgründig und nachhaltig meisterhaft.
Text © Larissa Ferro 2018